"Was jemand oder etwas ist, sagt Wagn*, wird von allem anderen definiert, das er oder es nicht ist. Dieses andere ist sein System, das Definierte selbst ist das Objekt, und diese System-Objekt-Beziehung gilt für physikalische Vorgänge ebenso wie für psychologische. Beim Objekt ICH wird das System von den Menschen gemacht, die es definieren: Die anderen machen mich zu dem, was ich bin, ohne ihre Definition wäre ich kein Individuum, denn ich hätte keine Eigenschaften und wäre von nichts und niemandem verschieden. Je weniger Menschen mich definieren, desto zuverlässiger wird die Definition, die man mir bietet, denn desto geringer ist die Gefahr, dass sie in sich wirdersprüchlich sein könnte. Das Glück, das ein Individuum durch genaues Definiertsein - durch seine freiwillige Unterwerfung unter fremde Maßstäbe - empfindet, nennt Wagn Lust an der Unfreiheit. Ihr Gegenteil wäre Existenzangst, die durch Definitionsmangel - durch Freiheit - entsteht. Der ideale Definitor ... wäre demnach ein einziger anderer, und am besten für die Rolle geeignet wäre zweifellos der Liebespartner. ... Derjenige, der mir am genauesten sagen kann, wie ich bin, als Mensch und als sexuelles Wesen, ist mein Geliebter. Das ist auch der Grund, weshalb Liebe glücklicher - und unglücklicher - machen kann als alles andere.
... Verlässt mich mein Geliebter, so entseht ein unmittelbarer, akuter Definitionsmangel, ein Zustand totaler Freiheit, auf den ich - wenn es eine wirklich große Liebe war, eine absolute Definition von Geist und Körper - nur mit Apathie, Verzweiflung, Wahnsinn, Selbstmord - mit Existenzangst reagieren kann. Der oft belächelte Liebeskummer ist wohl das größte Unglück, das einem Menschen zustoßen kann: Es ist das intensivste Freiheitserlebnis, das die Welt zu bieten hat."
*Klaus Wagn: Was Zeit ist und was nicht. München 1975
aus: Esther Vilar, das polygame Geschlecht
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